Mit dem öffentlich durch den türkischen Präsidenten Erdoğan erklärten Ende des kurdisch-türkischen Friedensprozesses sind die Auseinandersetzungen zwischen Türk*innen und Kurd*innen in der Türkei erneut aufgeflammt und haben bereits zu mehreren hundert Todesopfern geführt. Zeitgleich mit dem militärischen Vorgehen der türkischen Armee gegen die PKK in der Türkei selbst und auf irakischem Territorium finden im ganzen Land pogromartige Ausschreitungen gegen die kurdische Bevölkerung statt. Presseberichten zur Folge wurde ein junger Mann in Istanbul in einem Kaffeehaus erstochen, weil er auf Kurdisch telefonierte, im ganzen Land wurden kurdische Geschäfte gebrandschatzt und verwüstet und Kurd*innen von nationalistischen Türk*innen misshandelt (Weser Kurier vom 10.09.2015). Die FAZ vom 11.09.2015 berichtete aus der Stadt Cizre, über die ein tagelanger Ausnahmezustand mit Ausgangssperre verhängt wurde, von Parlamentsabgeordneten der HDP. Diese sandten aus der belagerten Stadt Nachrichten und Fotos von zerstörten Häusern und Geschäften. Ihnen zufolge sind in Cizre seit dem Beginn der Belagerung 21 Zivilist*innen getötet worden, acht allein am vergangenen Mittwoch. Zuletzt wurde in der Nacht zum Freitag ein zwölf Jahre alter Junge erschossen, der das Haus seiner Eltern verlassen wollte. (faz.net vom 11.09.2015)
In der liberalen türkischen Presse werden die Ereignisse der vergangenen Nächte bereits als „Kristallnacht“ bezeichnet (so der liberale Kolumnist Cengiz Candar in der Zeitung „Radikal“), der Autor Serdar Korucu verglich bei der Vorstellung seines Buches über den Pogrom vom 6. und 7. September 1955, der sich gegen die griechische Minderheit Istanbuls gerichtet hatte, die heutige Stimmung mit der Nacht vor 60 Jahren. Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan beobachtete in den Städten Diyarbakir und Sanliurfa, wie die türkische Armee mit Artillerie Geschäfte, Wohnhäuser und auch Moscheen beschießt (faz.net ebd.). Im Unterschied zu den Griech*innen haben die Kurd*innen jedoch keinen Heimatstaat, der die Opfer aufnehmen könnte. Es besteht die große Gefahr, dass hier unter Duldung der Bundesrepublik und der anderen NATO-Partner eine weitere Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat produziert wird.
Es entspricht der Logik der Gewalt, dass landesweit über hundert Büros der demokratischen, linken und über das kurdische Spektrum hinausgreifenden Partei HDP vom türkischen Demonstrant*innen verwüstet und in Brand gesetzt wurden. Auch das Hauptquartier der Partei in Ankara mit den für die Wahlen am 10. November erforderlichen Unterlagen wurde so zerstört. Es ist das zynische kaum verhüllte Bestreben der konservativ-islamistischen Regierungspartei AKP und von Staatspräsident Erdoğan durch Einschüchterung der Wähler*innen und brutale Unterdrückung der Partei die HDP wieder unter die an sich bereits undemokratische 10% Hürde zu drücken. Auf diese Weise sollen die Fortschritte der sich entwickelnden offenen Zivilgesellschaft in der Türkei zurückgedreht werden, die den autoritär-islamistischen Bestrebungen Erdoğans, sich als neoosmanischer „Sultan“ mit weitgehend unumschränkter Macht zu etablieren, im Wege steht. Weder er noch die PKK haben ein Interesse an einer demokratischen Erneuerung des Parteienspektrums und einer politischen statt militärischen Interessenwahrnehmung des kurdischen Bevölkerungsanteiles. Aus diesem Grund ignorieren Erdoğan und die AKP die beeindruckenden Aufrufe des HDP Vorsitzenden Selahattin Demirtaş sowohl an die PKK, wie die türkische Armee, zu einem sofortigen Waffenstillstand.
Die AKP-nahe Tageszeitung „Yeni Şafak“ hatte mit der Überschrift „Mörder“ über einem Bild Demirtaşs auf ihrer Titelseite die Partei praktisch zum offenen Angriffsziel für rechtsnationalistische MHP- und AKP-Sympathisant*innen gemacht.
Seit Tagen muss sich die Tageszeitung „Hürriet“ wegen ihrer erdoğankritischen Kommentare der Angriffe von AKP-Anhänger*innen unter Führung von Parlamentsabgeordneten auf ihr Istanbuler Redaktionsbüro erwehren. Auch die kurdischen Stadtverwaltungen sind massiver staatlicher Repression ausgesetzt. So wurden bislang sieben kurdische Bürgermeister*innen durch das türkische Innenministerium ihres Amtes enthoben und festgenommen.
Als Sozialistische Jugendverbände sind wir besonders wegen der Repression gegen die kurdische Zivilbevölkerung in der Türkei besorgt. Der türkische Staat hat die Pflicht, Bürger*innen und ihr Eigentum vor einem gewalttätigen Mob zu schützen. Der türkisch-kurdische Konflikt ist militärisch nicht zu lösen. Ein Waffenstillstand, wie auch von der PKK befürwortet, sollte unverzüglich und ohne Vorbedingungen von beiden Seiten umgesetzt werden. Der angekündigte Dialog muss wieder aufgenommen werden.
Zu unserer Mitgliedschaft gehören Jugendliche türkischer wie kurdischer Herkunft. Eine Fortsetzung des dortigen Konfliktes droht nicht nur die aktuelle Not von Geflüchteten zu verschärfen, es drohen auch die Auseinandersetzungen hier vor Ort zu zunehmen. Die Aggressionen und Gewalttätigkeiten der Teilnehmer*innen der rechtsnationalistischen MHP-Demonstration „gegen den Terror der PKK“ am 12. September gegenüber den kurdischen Gegendemonstrant*innen – von denen einer durch einen Messerstich schwer verletzt wurde – verdeutlichen die Dringlichkeit, dass wir uns in Niedersachsen und Hannover dieser Thematik annehmen.